Eine Französin für Chemnitz
– die neue Vleugels-Orgel in der Schloßkirche Chemnitz
Die Schloßkirche als ältestes Gebäude der Stadt Chemnitz ist Teil der von Kaiser Lothar 1136 erbauten Klosteranlage und ist heute als Hallenkirche der Spätgotik zu erleben. Im Verlauf des Jahres 2004 wurde deutlich, dass die Schloßkirche einen Orgeltyp bekommen soll, der in der Stadt Chemnitz und darüber hinaus noch nicht vorhanden ist und besonders gut zur Akustik in der Schloßkirche passt. Dies führte zum Konzept der „französisch-symphonischen Orgel nach Aristide Cavaille-Coll“. Nach einem längeren Entscheidungsprozess (Fahrten zu Orgelbauern…) fiel die Entscheidung für die Orgelmanufactur Vleugels aus Hardheim, dabei war klar, dass das Projekt aus finanziellen Gründen auf mehrere Bauabschnitte verteilt werden muss. Viele Detailfragen waren zu klären, dabei war eine Fahrt zu originalen Cavaille-Coll-Orgeln in Frankreich besonders aufschlussreich.
Die Gestalt der Orgel
Eine möglichst schlanke und somit architektonisch reizvolle und spannend gestaltete Skulptur war das Ziel. Das Spiel mit Farben und den aufstrebenden Formen der Gotik sollte sichtbar werden. Mehrere Künstler legten Entwürfe vor; den Zuschlag erhielt Jacques Gassmann. Er schreibt: „Vor allem Sachlichkeit scheint die streng geometrischen Holzgehäuse heutiger Kirchenorgeln zu dominieren. Da der Verzicht auf visuelle Reize auch einen Verlust an Ausdruckskraft meinen kann, wird die besondere Bedeutung der Orgel für den Gottesdienst oft nicht mehr verstanden. An diesem Punkt setzen meine Orgelgestaltungen an. Sie sind eine Möglichkeit mit Mittel der zeitgenössischen Kunst die besondere Funktion der Orgelmusik und ihrer religiösen Symbolkraft innerhalb der christlichen Liturgie wieder sichtbar zu machen. …Meine Malerei trägt dazu bei, Instrument und Architektur zu einem aussagekräftigen Kunstwerk zu verbinden.“ Die strukturierten Farbflächen wurden mit reinen Pigmenttinten bemalt und mit einer sanftmatten Firnis überzogen.
Das Klangkonzept und die technischen Besonderheiten der Orgel
Die Idee einer französisch-symphonischen Orgel nach Aristide Cavaillé-Coll stand im Vordergrund. Dabei darf die moderne Konzipierung einer Orgel in der Machart Aristide Cavaillé-Colls nicht einfach damit enden, nur die Registernamen in französischer Schreibweise zu gestalten. Natürlich muss konsequenter Weise folgen, dass auch die Pfeifen in seinem Stile hergestellt sind. Die Materialauswahl, die Wandungsstärken, die Kernschrägen, die Labierungen und Aufschnitthöhen, die Stimmvorrichtungen und die Intonation selbst müssen seine Sprache aufnehmen.
Zur Gesamtplanung der Orgel nach Cavaillé-Coll gehört die Lage der Windladen und damit auch die mechanische Trakturführung (hier alles auf einer Ebene) – die Stellung jeder einzelnen Pfeife auf den Windladen oder z. B. das Abführen von Pfeifen aus dem Bassbereich auf Zusatzladen, auf die so genannten Moteurs pneumatiques. Gerade hierdurch können die Grundmaße der Windladen überschaubar und die Ventilgrößen „spürbar“ klein gehalten werden.
Das Windsystem muss dazu passen: So die von ihm „erfundenen“ Doppelfalten-Magazinbälge sowie zahlreiche Ausgleichsbälge/Stoßfänger in den Windladen. Sein Ziel war es immer, relativ stabile Windanlage zu erreichen und nur eine leichte Bewegung/nur ein leichtes Atmen zuzulassen.
Unter Cavaillé-Colls Windsystemen findet man alle denkbaren Varianten – wie eine zentrale Versorgung mit einheitlichem Winddruck für die gesamte Orgel, eine Trennung des Winddrucks für die einzelnen Teilwerke oder eine Auftrennung in Bass- u. Diskantwind. Letzteres System kam in Chemnitz zur Umsetzung. Dabei zeigte es sich auch als sinnvoll, die Windversorgung der Barker-Anlage aus der Pfeifenversorgung herauszunehmen, damit sich die hierdurch erzeugten Windveränderungen nicht auf den Klangwind übertragen können.
Als besonders glücklicher Umstand ist zu sehen, dass es der Vleugels-Orgelmanufactur gelungen ist, eine historische Barkermaschine aus dem Hause Cavaillé-Coll in Chemnitz (wohl erstmals in Deutschland) zu integrieren.
Die Gestaltung des Spieltisches sollte nicht einfach eine Kopie eines Cavaillé-Coll-Spieltisches sein. In der technischen Umsetzung stand auch James Bond Pate, als es um eine Umschaltung der Registeransteuerung ging. So findet der Spieler die klassisch-französische Registratur mit den Jeux de fonds, Jeux de combinaison und Appells nach Cavaillé-Coll vor. Daneben ist die Orgel mit einem modernen Setzer und Sequenzern für den „zeitgenössischen“ Gebrauch ausgestattet, mit drehbaren Blenden (Schildern) und verschwindenden Schalterleisten in Anlehnung an 007.
Ein besonderer Vorzug ist es, dass die Orgelmanufactur Vleugels mit der Restaurierung der originalen Cavaillé-Coll Orgel im Franziskanerkloster von Madrid in Spanien betraut wurde (Artikel in Ars organi Heft 2010/3). Diese Erfahrungen konnten bei der Intonation der Chemnitzer Orgel direkt einfließen.
Die Praxis der letzten Jahre zeigt die Vielseitigkeit der musikalischen Möglichkeiten des Instruments. Nicht nur die französische Orgelliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts ist sehr gut darstellbar, sondern auch (bei entsprechender Registrierung) die Werke J. S. Bachs und die Musik der französischen Barock-Komponisten. In der Zusammenarbeit mit Chören und Solisten fühlen sich die Ausführenden vom Klang getragen. Dies wird durch die große 8′-Palette mit klarer Intonation und dynamischen Möglichkeiten der beiden Schwellwerke erreicht. Bei dem in der Orgelfestwoche erklungenem Konzert für Orgel und Orchester war das Instrument als gleichwertiger Partner zu dem symphonischen Orchester zu hören. Überhaupt ist der entscheidende Vorzug dieses Orgelwerks die Farbigkeit und Mischfähigkeit der Register.
Disposition der Vleugels-Orgel
Albert Schweitzer verbindet den Höhepunkt im Orgelbau mit Cavaillé-Coll. Schweitzer formuliert, „dass einst die Engel des Jüngsten Gerichtes auf der Orgel von Notre-Dame (1868, Paris – von Cavaillé-Coll erbaut) das Gloria spielen würden.“ In unserem irdischen Dasein können wir schon heute das Gloria auf der Vleugels-Orgel in der Schloßkirche spielen und ein einmaliges Instrument hören und bestaunen.
Siegfried Petri
Die Bilder wurden fotografiert von Elsemarie Schaarschmidt und Siegfried Petri.